Südkalifornien ist trocken, die Vegetation spärlich, der Boden sandig und der Blick fällt meist in die weite karge Landschaft. Auf diesem, dem südlichsten Teil, des PCT sind lange wasserlose Abschnitte zu bewältigen. Eine Wüste jedoch, wenn auch oft so tituliert, ist es nicht. Das wird mir spätestens klar, als ich im Auto Richtung mexikanischer Grenze sitze und die Regentropfen an die Scheiben prasseln.

Gettin’ started

Die letzten Tage habe ich über Los Angeles meinen ersten Stopp in den USA angesteuert und bin in San Diego für zwei Nächte bei den sogenannten Trailangels Scout und Frodo untergekommen. Die Beiden nehmen ehrenamtlich Hiker in ihrem Haus auf, bieten in ihrem Garten einen Platz zum Schlafen und unterstützen bei den logistischen Herausforderungen, welche es mit sich bringt wenn man monatelang nur mit Rucksack und Zelt die Gebirgszüge im Westen der Vereinigten Staaten durchqueren möchte.

Drei Tage nach meiner Abreise aus Deutschland, am siebten Mai 2019 um es genau zu sagen, sitze ich nun mit zwei weiteren Thruhike Aspiranten im Mazda eines Volunteers. Es wird nur wenig gesprochen. Unser Fahrer ist selbst ehemaliger Thruhiker des PCT, also jemand der den Trail in seiner gesamten Länge erwandert hat, und am redseligsten, seine Begeisterung deutlich erlebbar. Unsere Blicke hingegen fallen durch die Seitenscheiben des Fahrzeuges in die graue und wolkenverhangene Hügellandschaft, welche uns umgibt.

Campo – Mexikanische Grenze

Um die zwanzig Personen sind es, welche an diesem Morgen, in diesem ersten Schwall des Tages, aus den Autos steigen. Etwas zurückhaltend, gar schüchtern, sucht jeder nach Orientierung, nimmt mit seinem Rucksack auch seinen ganzen Besitz aus dem Fahrzeug und trottet langsam im nachlassenden Regen hinüber zum southern Terminus des Pacific Crest Trails.

Die meisten Gesichter kenne ich aus den vergangenen Tagen in San Diego, schnell wurden dort die jeweiligen Beweggründe, Vorstellungen und Pläne ausgetauscht. Nicht jeder hat den ehrgeizigen Plan den Trail in seiner gesamten Länge zu gehen. Viele möchten sich nicht festlegen, die Dinge auf sich zukommen lassen. Manch einer befindet sich in einem Umbruch im Leben und hat gar nicht die Zeit für einen kompletten Thruhike, weil in wenigen Monaten ein neuer Job, ein neues Land, eine neue Stadt – ein neuer Lebensabschnitt wartet. Der Großteil ist in seinen Zwanzigern, ich gehöre zu den wenigen, welche die 30 schon hinter sich gelassen haben. Zwischen den Amerikanern tummelt sich nur eine Handvoll Ausländer, zumeist aus Europa und Ozeanien.

Nach einer kurzen Unterweisung der PCTA und einem Gruppenfoto mache ich mich auf den Weg. Viele stehen noch verloren in der Gegend und scheinen nicht so recht zu wissen was zu tun ist. Gehen, Richtung Kanada, 4200 Kilometer. Das ist zumindest mein Plan. Die meisten werde ich nicht wiedersehen.

Als das grüne Schild mit der großen 1 am Wegesrand auftaucht, welches die erste vollendete Meile des Trails markiert, hängt noch immer die Feuchtigkeit in der Luft. Wir sind noch zu sechst, der Großteil erfahrene Weitwanderer, viele waren bereits auf dem Appalachian Trail im Osten der USA unterwegs.

Mit einem Amerikaner, welcher sich als “Numbers” vorstellt, haben wir einen Tripplecrowner unter uns. Also jemanden der die drei großen Trails der USA bereits durchwandert hat. Den PCT nimmt er somit zum zweiten Mal in Angriff. Der Ingenieur trägt zu weißem Hemd eine selbstgenähte blaue Windhose über die sehr kurze Sporthose. Dazu giftgrünen Rucksack sowie silbernen Regenschirm. Über den frisch rasierten Schädel hat er eine beige Kappe mit Nackenschutz gestülpt. In Amerika wandert man leicht – ultralight – und genau das soll dieser Look auch wiederspiegeln. Auf Nachfrage erzählt er mir detailliert, wann er was gewandert ist und welche Teilstrecken der Trails ihm aus welchen Gründen noch fehlen. Im ziemlich exakten Wortlaut werde ich diese Darlegungen in den kommenden Wochen noch öfters zu Gehör bekommen.

Der kleine Bach, an welchem wir nach rund 15 Meilen Pause machen, wird laut meiner Recherchen von vielen am ersten Tag bereits als Nachtquartier aufgesucht. Es ist Mittag, die Reihen haben sich weiter gelichtet, doch an Feierabend ist noch nicht wirklich zu denken. “How many miles do you think, twenty-ish?” fragt fiddlehead. Die junge Frau mit den Dreads trotzt dem Wetter ohne Regenjacke. Aus Gewichtsgründen. Ich hab keine Ahnung. Für gewöhnlich lauf ich bis der Abend hereinbricht.

Prioritäten sortieren

Bereits die kommenden Tage bessert sich das Wetter spürbar und auch die weitere Vorhersage schaut vielversprechend aus.

Mit der sengenden Sonne am wolkenlosen Himmel rückt ein Thema in den Fokus: Wasser. Man studiert sorgfältigst online die neuesten Kommentare zu den bekannten Quellen, plant Tages- und Zwischenziel anhand dieser und tauscht sich unentwegt mit Anderen aus, wo und wann sie planen Wasser aufzunehmen. Mangels natürlicher Quellen sind wir auf Brunnen aller Art und oft auch auf die Unterstützung anderer angewiesen. An so genannten Water Caches hinterlegen Freiwillige in Kanistern tausende Liter Wasser jährlich.

Nicht immer sind diese auch gefüllt und nicht immer möchte man die Brunnen nutzen. Schauermärchen über verendete Tiere in der Nähe dieser oder gar in diesen kursieren allgegenwärtig.

Wie dieser Trail war, bevor er so populär wurde, bevor jederzeit sämtliche Wasserressourcen, Straßenquerungen, Trailtowns und selbst geeignete Tentsides online per App abrufbar und jeder Wegpunkt live kommentiert werden konnte, kann ich mir nur ausmalen. Für mich ist diese Art des digitalisierten Wanderns auch eine gänzlich neue Erfahrung.

Town Stops

Am Morgen des dritten Tages lege ich an Scissors Crossing meinen ersten Halt ein. Ich muss nicht einkaufen, bin mit Lebensmitteln ausreichend versorgt, doch bereits jetzt nach nur zwei Tagen treiben mich die Neugierde und der Appetit in die Stadt. Und so geht es fast allen, der kostenlose Kuchen bei Mom’s für Wanderer des Trails ist berühmt und so nehmen wir den Umweg auf uns.

Town Stops kosten Geld, doch dieses investiert man meist bereitwillig. Der nicht unerheblichen Zeitaufwand muss jedoch, stets gut abgewägt werden, denn es liegt ja noch ein langer Weg vor mir.

Zu dritt hitchhiken wir am Highway 78 die zwölf Meilen nach Julian. Die Trailnames, also die Spitznamen, der beiden anderen lauten Couscous und Cashew. Neben Wasser ist Nahrung das andere große Thema.

Der kürzeste Weg nach Kanada ist dies sicherlich nicht

Die kommenden Tage bleiben heiss und allmählich erfasse ich die Dimensionen dieser Landschaft. Und auch wird mir klar: Der kürzeste Weg nach Kanada ist dies sicherlich nicht. Dieser Gedanke geht mir in diesen Tagen häufig durch den Kopf. Oft spreche ich ihn auch aus.

Mit geringer Steigung windet sich der Trail in unzähligen switchbacks durch die staubtrockenen Hügel, läuft in jeden Taleinschnitt hinein um dann nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aus diesem hinaus zu kommen. Ein künstlich angelegter Trail ohne jeglichen Schatten, welcher sich durch die, wie einen botanischen Garten anmutende, Landschaft schlängelt. Zwischen Felsen und den Blütenständen der Agaven wachsen Kakteen unterschiedlichster Art.

Warner Springs Community Center

Warner Springs ist eine kleine Gemeinde direkt am Trail bei Meile 109 und stellt alljährlich sein Gemeindehaus für die PCT Community zur Verfügung. Neben dem Nötigsten an Nahrung und einem Platz für die Nacht bekommt man etwas noch viel Wichtigeres: Strom um seine elektronischen Geräte zu laden.

Ich treffe hier auf die Freundin von Reimar, ihn kenne ich von meiner Durchquerung der Pyrenäen auf dem HRP im Jahr zuvor. Zum Teil verdank ich es Reimar und seinen Schilderungen des PCTs, dass ich nun hier sitze, in einem Eimer den gröbsten Schmutz aus meine Klamotten rauswasche und kalte Tütensuppe esse.

Alle starren gen Himmel oder zumindest auf ihr gen Himmel gerichtetes Smartphone. Über den bunten Zelten, welche auf der Wiese hinter dem Haus stehen, hat sich eine riesige Wolke aufgetürmt und verdeckt die Sonne.

Die Abendstunden sind für mich, neben dem frühen Morgen, die schönste Zeit des Tages. Um diese Zeit ist auf dem Trail nicht viel los, die Tierwelt kommt aus ihren Verstecken, die brütende Hitze des Tages verschwindet allmählich und die Abendsonne überzieht alles mit einem goldenen Leuchten. Das Wetter ist heute einfach zu schön um nicht noch ein Stück weiter zu gehen und den Trubel hinter mir zu lassen.

Fabelhafte Tierwesen

Kaum eine Woche unterwegs kann der PCT noch täglich mit Überraschungen punkten. Wiederholt bin ich die letzten Tag auf kleinere Schlangen gestoßen, habe eine Vielzahl an Eidechsen (Amphibians and Reptiles of California) entdeckt und das ein oder andere Kaninchen ist meinen Weg gequert. Doch heute sehe ich meine ersten Klapperschlangen. Ich muss, trete zwei Schritte vom Trail hinunter, wie schon so oft in den letzten Tagen, und da liegt sie vor mir. Regungslos mustern wir uns gegenseitig. Ich bin noch nicht lange unterwegs, gerade erst aus dem klammen Schlafsack gekrochen, es ist noch früh am Morgen, die Luft ist frisch und die Sonne hat noch nicht viel Kraft. Ebenso wie die dunkel gemusterte Schlange, welche sich wohl gerade erst ein Platz zum Sonnen gesucht hat und ganz anders, als es ihr charakteristisches Schwanzende vermuten lassen würde, keinen Ton von sich gibt.

Auch faszinierend: Die hier vorherrschende Zauneidechse ist meist nahezu schwarz, hat einen blauen Bauch und macht Pushups um einen zu beeindrucken.

Hiker trash welcome

Gegen Mittag finde ich mich dann bei Mike’s place ein. Eine weitere Institution am Rande des Weges. An dem abgelegenen Haus mit dem vermüllten Grundstück empfängt ein Typ mit Bier, Gras und Pizza vorbeiziehende PCT Wanderer. Für ausschweifenden Partys ist es noch zu früh und so genießen wir nur etwas den Schatten vor dem Haus, kühle Getränke und Reste einer Pizza bevor die Rucksäcke wieder aufgewuchtet werden..

Der Hagelschauer am späten Nachmittag fällt bei schönstem Sonnenschein. Numbers sitzt auf einem Felsen unter seinem Regenschirm und kämpft um Fassung.“This is ridiculous!”

Was für ein Leben

Im Süden Kaliforniens quert der Trail noch häufig Straßen, welche wie Adern die Landschaft durchziehen und als Tor zur Zivilisation dienen. Nicht umsonst ist besonders dieser Teil des PCT beliebt. Die Sonne scheint, man trifft viele Leute und kann fast täglich irgendwo einkehren und die Speicher mit üppigen Mahlzeiten, Junkfood, Bier und Softdrinks auffüllen. Nichts zu tun, keine Verpflichtungen, Sonnenbrille im Gesicht und immer wieder mal ein kühles Bier.

An Tag sechs liegt wenige Meilen entfernt das Paradise Valley Cafe. Ein großer Salat, ein Gardenburger sowie einiger Getränke später machen wir uns mit einem Milkshake in der Hand wieder auf den Weg. Kaum zurück am Trail wartet am Parkplatz neben der Straße unter einem Pavillon eine kalte Coke auf uns.

San Jacinto Wilderness

Die Stämme sind rußschwarz und rissig. Die äußersten Schichten der Bäume sind verkohlt und durch tiefe Risse in Würfel unterteilt. Wie ein großes Stück Holz in einem erloschenen Lagerfeuer des Vorabends. So wirken diese Bäume. Warum sie so häufig komplett ausgehöhlt sind erschließt sich mir nicht. Der kommenden Trailabschnitt fiel 2013 einem Waldbrand zum Opfer. Erstmals wurde in diesem Jahr die Sperrung aufgehoben. Über Kilometer bewege ich mich durch eine unwirkliche und bizarre Landschaft.

Der immer wiederkehrende Anblick verkohlter Baumstämme wird mich noch bis in den Norden der USA begleiten.

Aus dem geplanten Zero, also einem Pausentag, in dem Örtchen Idyllwild wird nichts. Wir bleiben über Nacht auf dem Campingplatz im Ort und brechen dann wieder auf, das Wetter soll umschlagen und ich möchte schließlich noch den 3302m hohen San Jacinto besteigen, an dessen Fuß der Ort liegt und wessen Gipfel einfach zu nah am Trail liegt um ignoriert zu werden.

Der Abstieg verläuft weglos durch den Wald zurück auf den irgendwo unter mir den Berghang querenden PCT, der eigentliche Pfad liegt tief unter dem Altschnee begraben. Numbers wartet auf mich am vereinbarten Treffpunkt, wir steigen noch ein wenig ab und verbringen eine sehr unruhige Nacht, Deckung suchend zwischen umgestürzter Bäume. Beim Abendessen, zusammengekauert in meinem winzigen Zelt, stelle ich fest, dass meine Luftmatratze defekt ist. Im Schein der Taschenlampe kann ich das Loch notdürftig flicken während der Wind beständig die Stabilität meines Zeltes in Frage stellt.

Ich erinnere mich an die Plakate vermisster Personen, welches ich tags zuvor in Idyllwild sah. Neben den verschwundenen Wanderern des PCT ist mir besonders ein Mann im Gedächtnis geblieben, der im letzten Jahr offroad mit seinem Wagen liegen geblieben war. Sein Fahrzeug fand man später, ihn jedoch noch nicht.

Der Morgen beginnt wie der vorhergehende Tag endete: stürmisch. Die Temperaturen in den Höhenlagen sind kühl und es hängt Feuchtigkeit in der Luft Doch das ändert sich mit der fallenden Höhe zügig. Im Tal warten schon die in der Mittagsonne liegenden Klapperschlangen auf uns.

Bereits vom Gipfel des San Jacinto sah ich die Windkraftanlagen im Tal von Palm Springs. In den kommenden Tagen ein häufiger Anblick.

Ausgleich geben die Flusstäler von und rund um Mission Creek. Gänzlich naturbelassen windet sich der Fluss durch die Kiesbette. Dort wo eigentlich der Trail verlaufen sollte.

Zero in Big Bear

Am Vortag konnten wir nur noch zu viert ein Motelzimmer auftreiben. Ein winziger Raum mit zwei kleinen Betten und einem Bad, welches bald schmutziger sein wird als wir es zuvor waren. Es ist Spartanrace in Big Bear City und alles andere ausgebucht.

Am nächsten Morgen kann ich einen Platz im Hostel ergattern und trampe zurück ins am anderen Stadtende liegende Motel um meine zurück gelassenen Sachen zu holen. Meine Mitfahrgelegenheit wartet bis ich alles gepackt habe und fährt mich zurück zur neuen Unterkunft. Trampen, oder hitchhiken wie man hier sagt, funktioniert in den USA hervorragend, meist muss man nicht lange warten und wird mitgenommen. Wiederholt vergewissert man mir jedoch, dass dies nur für Wanderer in Umgebung des Trails gilt. Voraussetzung ist, dass man ungeduscht ist, zerschlissene dreckige Kleidung sowie Rucksack trägt um als solcher auch identifizierbar zu sein.

Im Hostel ist doch weniger Unterhaltung geboten, als ich mir erhoffte. Abends versuche ich mir aus Langeweile meine Glatze zu rasieren. Mit lediglich einem Einwegrasierer dauert es eine ganze Weile die mittlerweile doch recht langen Haare wegzuschaben. Das Ergebnis passt zum Rest meiner Erscheinung.

Es ist früh am Morgen, während der Nacht hat es überraschenderweise geschneit und draußen liegt Schnee. Ich versuche mich zu lockern und meinen geschundenen Körper auf die noch vor mir liegenden Strapazen vorzubereiten. Als ich mich vorbeuge schießt mir das Blut aus der Nase. Die trockene Luft stellt schon seit den ersten Tagen eine Herausforderung für meine Schleimhäute dar, wiederholt hatte ich in den vergangenen Tagen mit Nasenbluten zu kämpfen. Heute kein Yoga.

Das Wetter bleibt wechselhaft. Die kommenden Tage passieren wir heiße Quellen, mir entschieden zu viel Nacktheit – seit Tagen nichtmehr gewaschene Nacktheit – in zu engen Becken und später den Bus von Coppertone. Der klischeehaft “amerikanisch-christlich” religiöse Trail Angel erwartet an wechselnden Punkten entlang des PCT Wanderer. Von ihm bekomme ich meinen ersten Root Beer Float, einen amerikanischen Klassiker ähnlich eines Milchshakes, serviert. Eine nahezu spirituelle Erfahrung.

Der Weg nach Wrightwood windet sich den ganzen Vormittag den Berg hinauf. Die Sichtweite ist gering und die Temperaturen fallen mit steigender Höhe, im Tal hinter mir heulen die Kojoten. Zumindest in meiner Vorstellung, eventuell sind es auch nur Hunde. Schließlich geht der Nebel in Schneefall über. Der starke Wind tut sein Übriges.

Wrightwood selbst, etwas abseits des Trails im Tal, begrüßt uns mit Sonnenschein, doch ein Zimmer bekommen wir heute keines mehr. So hitchen wir, jeder mit einem großen Pizzakarton unter dem Arm zurück auf den Trail und verbringen eine frostige Nacht im Zelt.

Im Aufstieg zum Mount Baden-Powell erschließt sich mir warum Numbers nicht mit auf den San Jacinto kam. An dem noch mit Altschnee bedeckten Berg fühlt er sich sichtlich unwohl, bewegt sich unsicher, gar ängstlich. Auf- und Abstieg dauern unverhältnismäßig lange. Grödel wären jetzt hilfreich, doch die sind erst ab Kennedy Meadows eingeplant.

Den kommenden Abend schlagen wir auf einem Sattel unser Lager auf. Doch schnell zeigt sich, dass es keine geruhsame Nacht wird.

Die weite Sicht ins Tal, welche ich noch genoss während die Sonne unterging, lässt – kaum das eben diese hinter dem Horizont verschwunden war – den erbarmungslos über den Sattel fegenden Wind schutzlos über uns herfallen. Wiederholt krabbel ich aus dem Schlafsack um mein Zelt mit weiteren Steinen gegen den Wind abzusichern. Auch bei Numbers flackert die Stirnlampe, sein minimalistisches Tarp steht kaum noch.

Mitten in der Nacht brechen wir auf, denn an Schlaf ist nicht zu denken. Die verkohlten Skelette der Bäume zeichnen sich dunkel gegen den Himmel ab. Klug war er wahrlich nicht bei dem Wetter weiter zu gehen, doch findet sich im Dunklen nicht schnell ein besserer Platz um erneut das Lager aufzuschlagen und meine Lust das hastig und ohne System in den Rucksack gestopfte Zeug ohne Licht wieder herauszukramen ist gering.

Bei einer Rast an einem Rinnsal döst Numbers im Sitzen ein, ich warte auf das erste Sonnenlicht und gehe weiter. Ich will runter von diesem Berg. Bedrohlich schwanken die Pinien im Sturm. An einem Campingplatz stehen ein paar wenige Zelte im Wind, deren Bewohner suchen teils im Plumpsklo Sicherheit.

Hiker Heaven

Fuck you schreit er während er den Trailer verlässt. Fuck you!. Ich lungere schon seit Stunden lethargisch herum als das Geschrei meinen Fokus auf sich zieht. Sichtlich aufgebracht läuft der Mann zwischen den irritierten Wanderern hindurch und schreit auch ihnen wiederholt ein Fuck you ins Gesicht. Er ist hier nicht mehr willkommen, während sie – die Fremden – aufgenommen werden, soviel kann ich dem Geschrei entnehmen. Sein Vater lässt seinem Zorn ebenso unverblümt freien Lauf. Das kurze Aufflackern der unschönen Realität des alltäglichen Lebens lässt die dutzenden Wanderer, welche noch kurz zuvor entspannten, sich interessiert unterhielten oder einfach nur ihren Erledigungen nachgingen verstört zurück. Betretenes Schweigen, leises Getuschel. Ein Streifenwagen fährt vor. Der Familienstreit wird leiser, verlagert sich vor das Tor.

Ich bin in Hiker Heaven. Die Saufleys haben ihr Haus und Grund den Sommer über gänzlich auf Wanderer ausgerichtet. Dutzende Thruhiker zelten auf ihrem Land, in der Garage lagern in Regalen Hunderte ein- und ausgehender Pakete. Nebst Zelt mit sauberer Wechselkleidung sowie einen Waschservice gibt es einen Frisiertisch und dutzende Dixietoiletten. Ich lege einen Tag Pause ein, teile mir mit Anderen ein Uber und kaufe bei VONS Lebensmittel für die nächsten Tage und bei R.E.I. Ausrüstung für’s Gebirge. Diese schicke ich als Paket nach Kennedy Meadows während Numbers sich mit seiner Familie in Los Angeles trifft.

Das Hiker hostel in Agua Dulce gab es bereits über zwanzig Jahre, was einst mit wenigen durchkommenden Wanderern begann ist eine logistische Höchstleistung mit hunderten wenn nicht tausender Gäste pro Saison geworden. Seit 2020 leben die Saufleys in Washington und Hiker Heaven ist in seiner ursprünglichen Form geschlossen.

Casa de luna

Nur einen Tagesmarsch nach Hiker Heaven kommt in das Heim von Terrie Anderson und ihrem Mann. Auch die beiden nehmen seit gut 20 Jahren Hiker bei sich auf. Was einst mit zwei Personen begann, sind laut eigenen Angaben über 2000 in den letzten Jahren gewesen. Während man bei den Saufleys, den weiteren Trailverlauf organisiert kann man in der Casa de Luna für wenige Stunden auf neue Gedanken kommen. Hinter dem unaufgeräumten Haus der Beiden wächst ein großer Manzanita Wald in dessen Labyrinth dutzende Zelte aufgeschlagen sind. Überall liegen bunte Steine herum, welche die Wanderer auf der Terrasse vor dem Haus bemalen. Abends gibt es Tacosalat auf den durchgesessenen Sofas vor dem Haus und es wird gefeiert. Am Morgen macht der Hausherr Pancakes und anschließend zieht jeder wieder seines Weges.

Auch die Casa de Luna hat im Jahre 2019 zum letzten Mal ihre Tore geöffnet. Somit haben die drei großen Trail Angel entlang des Pacific Crest Trails geschlossen.

Die Wüste

Die Westernstadt Hiker Town gilt auch als ein Meilenstein am Rande des PCT, einer welcher in meinen Augen durchaus verzichtbar wäre. Wir verbringen hier einige Zeit um die Mittagshitze auszusitzen. Viele verbringen hier den Tag, starten erst am Abend und laufen die Nacht hindurch. Schließlich streifen wir auf den kommenden Meilen die Mohave Wüste. In einiger Entfernung gibt es gleich zwei Möglichkeiten essen zu gehen, die zwei Lokale befinden sich augenscheinlich im Wettstreit um die verwahrlosten Wanderer, welche ihr letztes Geld für Burger und Bier ausgeben würden. Numbers und ich verlieren irgendwann die Geduld und starten zum Marsch durch die Wüste auf dem Aquäduct, welches Los Angeles mit Wasser versorgt.

Tehachapi

Nach einem langen Tag und wenigen Stunden Schlaf schleppen wir uns erschöpft durch staubige von Motocrossrädern zerfressener Berge Richtung Tehachapi.

Nach einem Burger checke ich bei Fish ins Hotelzimmer ein. Numbers plant erneut einen Tag Offtrail, Fish legt hier einen Zero ein. Doch mich zieht es weiter, ich will nur meine Vorräte aufstocken, duschen und mich sattessen.

Ich breche erst spät am nächsten Tag per Anhalter auf. Es regnet als ich wieder auf dem Trail angelangt bin und eine der größten Windkraftanlagen der USA durchquere. Seit den Achtzigern betoniert hier ein dänisches Unternehmen Anlage für Anlage in den Wüstensand.

Viele laufen den PCT in Gruppen, warten auf einander und stimmen das Tempo aufeinander ab. Es gibt Wanderer, welche nie eine Nacht alleine auf dem PCT gezeltet haben und es gibt Gruppen die von Anfang bis zum Ende in wechselnder Konstellation gemeinsam gehen, pausieren, essen und schlafen.

Ich bin es gewohnt mein eigenes Tempo zu gehen, möchte ehrlich gesagt auch nicht auf Andere warten und kann es mir nicht leisten mich zu überfordern nur um mit jemanden Schritt zu halten. So kommt es, dass nach rund zwei Wochen Numbers das einzige Gesicht ist, welches ich immer wieder treffe, mit welchem ich teils längere Abschnitte auch mal gemeinsam gehe. Doch ganz bewusst habe ich mich entschieden in Tehachapi keinen Pausentag einzulegen.

Gänzlich ungebunden lege ich die kommenden Tage ein wenig an Tempo zu. Umso näher ich dem Gebirge, der Sierra Nevada, komme – umso heißer wird es. Obwohl ich ausgiebigere Mittagspausen einlege kann ich mein Tagespensum steigern.

In diesen Tagen treffe ich häufig auf Kid’s Menu und gehe einige Schritte mit ihm. Ihm begegnete ich erstmals in Hiker Heaven. Der erst 15 jährige läuft mit minimalistischem, teils selbst genähtem, Gepäck den PCT. Bereits mit dreizehn Jahren ging er den Appalachian Trail, damals noch in Begleitung seiner Mutter.

Trail Magic

Mittlerweile bin ich schon 29 Tage unterwegs. Den Kommentaren der Farout App entnehme ich, dass es aktuell am Walker Pass Trail Magic gibt. Die Amerikaner habe ich als unglaublich gastfreundlich kennen gelernt. Entlang des Weges werden einem von ehemaliger Thruhiker aber auch Ortsansässigen ohne jeglichen Bezug zum PCT immer wieder unerwartet Snacks und Getränke angeboten. Häufig findet man Kühlboxen am Wegesrand, bestückt mit kalten Getränken, manche stellen ein paar Stühle auf und bereiten Hotdogs zu, andere wohnen für Tage in ihrem Camper und heißen einen willkommen.

Stets getrieben von dem Gedanken etwas zu essen, vor allem etwas anderes als die übliche Mischung aus Trailmix (Studentenfutter, wobei in den Staateb meist die Hälfte aus M&Ms besteht), Couscous, Kartoffelbrei und Instantnudeln zu essen, sind dies begehrte Einladungen. So kommt es dass ich bereits gegen Mittag die zwanzig Meilen zumWalker Pass hinter mich gebracht habe. Ein anderer PCT Wanderer pausiert mit Knieproblemen, hat sich ein Auto gemietet und Bier mitgebracht. Erst gegen 15 Uhr kann ich mich aufraffen und komme so erst spät am Abend im Dunklen am anvisierten Tentside an. Die Uhr sagt 37.9 Meilen.

Ich bin nun seit gut einem Monat unterwegs, habe es langsam angehen lassen mich dann stetig gesteigert und bin im Schnitt etwa 22 Meilen – immerhin gut 35 Kilometer – pro Tag gegangen. Somit laufe ich im Dunklen noch gut eine Stunde die Kehren am Berg hinauf. Erstmals seitdem ich auf dem Trail bin habe ich nun die 40er Marke überschritten. Fast 65 Kilometer. In einer der vielzähligen Kurven lege ich mich dann mitten auf den Weg, nicht wirklich optimal, leicht abschüssig aber für Heute reicht es.

Endspurt

Das nicht unerhebliche Tempo der letzten Tage, die trockene Hitze und der Dreck haben seine Spuren hinterlassen. Meine Beine und Füße schmerzen.

Erreicht man Kennedy Meadows hat man Südkalifornien, das erste Teilstück des Pacific Crest Trails, erfolgreich bewältigt. Der Ort steht für so vieles das man bis zu diesem Zeitpunkt erreicht hat. Mit Applause werde ich an der Terrasse des General Stores begrüßt. Kennedy Meadows. Das Tor zur Sierra Nevada. Hier beginnt das Hochgebirge. Das Beste steht mir nun bevor. Dies ist der Ort an dem Cheryl Strayed ihre Sachen packte und mit dem Auto weiterfuhr. Und so nicht nur sie.

Die Sierra liegt, jetzt im frühen Juni, nach wie vor unter Schnee bedeckt. Die Bäche sind aufgrund der einsetzenden Schneeschmelze zu reissenden Flüßen mutiert. Viele werden es dieses Jahr nicht versuchen den PCT an einem Stück zu laufen. Einige werden die Sierra überspringen und später nachholen, andere fahren an die kanadische Grenze und laufen ab dort gen Süden. Die meisten scheuen die Herausforderungen der nächsten paar hundert Meilen durch Gebirge.

Ich möchte den PCT durchwandern, ihn am Stück laufen, doch die Sierra nicht zwingend alleine. Numbers habe ich absichtlich hinter mir gelassen, ansonsten sind wenige bekannte Gesichter vor Ort, von welchen ein Großteil hier bleiben und zumindest noch 1-2 Tage neue Kräfte sammeln möchte. Ebenso geht es Kid’s Menu und so bilden wir ein doch eher ungewöhnliches Team als wir uns am kommenden Tag in die Weiten der Sierra Nevada aufmachen.