Überschritt ich am vorigen Nachmittag die Grenze zwischen Spanien und Andorra und erreichte kurz darauf den Ort Arinsal, werde ich spätestens am morgigen Tag das Fürstentum wieder verlassen und meinen Weg in Frankreich fortsetzen.
Andorra ist auch nur etwa halb so groß wie Berlin und hat nichtmal 80.000 Einwohner. Der Tourismus spielt in der Wirtschaft eine elementare Rolle, das Land ist für Skiorte wie Arinsal bekannt und gilt zudem als Steueroase.
Nach einem ausgiebigen Frühstück geht es um neun Uhr gemeinsam mit Reimar aus der Stadt heraus. Der Hügel hinter dem Ort entpuppt sich als steil. Der zumeist weiche Waldboden ist jedoch angenehm zu gehen.
Im Tal dahinter trennen sich die Wege abermals. Ich laufe parallel zur Straße auf breiten Wirtschaftsweg das Tal hinauf. In El Serrat, von wo ich wieder in die Berge aufsteigen werde, gönne ich mir noch ein Eis. Noch zu satt bin ich, als ich wenig später am modernen Refugi Borda de Sorteny vorbeikomme, trinke aber noch einen anständigen Kaffee bevor der Anstieg zum Collada de Meners (2700m) beginnt.
Ich fühl mich gut, komme gut voran. Der eher kurze Vortag gab mir frische Kraft. Zu meinem Bedauern verschlechtert sich jedoch, beim Abstieg zur ersten Hütte zusehends das Wetter. In dem einfachen Verschlag treffe ich einen ziemlich gesprächigen Briten an. Außerdem noch ein deutsches Pärchen und einen weiteren etwas älterer deutschen Wanderer. Alle vier laufen hier eine Rundtour durch die Berge und suchen Schutz vor dem Wetter.
Ich sitz die ersten niederprasselnden Regentropfen aus und lasse mich über meine Optionen aufklären. Alle Anwesenden kommen aus der Richtung, in welche ich möchte und jeder hat einen Rat für mich parat. Als der Regen Pause macht, setze ich meinen Weg bei grollendem Himmel fort.
Ziemlich ungemütlich ist das Wetter, als ich über einen Sattel zur nächsten Hütte wandere. Wie man mir zuvor bereits erzählte, wird diese derzeit renoviert und ist eigentlich geschlossen. Die anwesenden Handwerker sind wenig gesprächig und zeigen keine sonderlich große Freude als ich die kleine Hütte betrete. Ich wärme mich im Inneren trotzdem kurz auf, während ich auf der Karte meine Möglichkeiten durchgehe. Gerne würde ich heute zu einer bewirtschafteten Hütte weiterlaufen, denn bei dem Wetter käme mir eine warme Mahlzeit genehm. Daraus wird aber nichts.
Ich komme noch ein gutes Stück weiter, doch das Wetter ist trüb, nass und stürmisch. Im Hochtal auf rund 2000m Höhe stelle ich im Windschatten einiger Fichten mein Zelt auf. Der Weg gewinnt nun an Höhe und dort am Port d’Incles ist wie so oft zuvor mal wieder alles in Nebelschwaden gehüllt. Darauf habe ich heute keine Lust und lass es gut sein. Es regnet noch eine ganze Weile bevor es dann am späteren Abend aufklart.
Nach nun fast 20 Tagen auf den Beinen bin ich angesichts der ungewohnten Disziplin, die ich am nächsten Morgen an den Tag lege, ein wenig stolz. Bereits kurz nach Sieben Uhr habe ich meine Sachen im Rucksack verstaut und marschiere los.
Wie ich bald feststelle wäre der Weg bis zum Refuge du Rulhe, den ich für den Vorabend angedacht hatte, definitiv zu weit gewesen. Aber eine Vielzahl schöner Zeltstellen hätte es gegeben. Angesichts des Wetters vom Vortag spielt das aber alles keine Rolle.
Die Route nimmt definitiv nicht den kürzesten Weg durch die Berge, in zahlreichen Schleifen windet sich der Pfad um die Gipfel und verbindet alle Seen die sich hier an der Landesgrenze zwischen Andorra und Frankreich befinden.
Wie tags zuvor treffe ich auch heute auf kaum eine Menschenseele. Der Weg führt mich hoch auf den Col de l’Albe (2539m). Von diesem eile ich hinunter ins Tal, denn ich weiß nicht ob der Laden im französischen L’Hospitalet-près-l’Andorre Nachmittags schließt – wie es hier häufig der Fall ist.
Als ich um kurz nach 13 Uhr im engen Tal des Flusses Ariège stehe, hat der Imbiss mit eingegliederten Laden zu meiner Freude geöffnet. Ich esse eine Kleinigkeit, gönne mir eine Cola, Eis und Kaffee sowie ein wenig Proviant und dann geht es auch schon weiter.
Das Tal, in welches ich hinauf steige, ist ein beliebtes Ausflugsziel. Die Zahl der Wanderer nimmt zu und auch auf Kühe treffe ich zuhauf. Teilweise ergreift sie bei meinem Anblick die Panik, so dass ich befürchte sie brechen sich auf der Flucht alle Knochen. Teilweise haben sie ein so großes Interesse an mir, dass mir dies nicht ganz Geheuer ist und ich zusehe Abstand zu gewinnen. Die dickfälligsten unter Ihnen folgen mir bis zum Refuge hinauf wo sie die Aire de bivouac in Beschlag nehmen.
Die Refuge des Besines wird wieder charmant französisch geführt und lädt zum Verweilen ein. Vor allem da meine Füße wund gelaufen sind. Auf beiden Seiten habe ich mir an der Sohle die Haut flächig aufgescheuert. Die neuen Socken und Schuhe harmonieren noch nicht mit meinen Füßen.
Es ist aber erst 16 Uhr und ich verfahre wie üblich: Kaffee, Crepe und weiter geht’s!
Ich quere noch ein weiteres Tal und kann einen ersten Blick auf den Pic Carlit (2921m) werfen.
Eigentlich führt meine Route über diesen hinweg, doch die Wolken verschlingen den Gipfel zusehends. Es ist zudem schon ziemlich spät und so nehme ich den Pass zu seiner linken Seite und laufe am Berg vorbei.
Im Tal dahinter plane ich auf dem ersten Plateau, welches ich erreichen werde, mein Zelt aufzuschlagen. Doch aufgrund der zahlreichen Kühe, die sich dort tummeln, gehe ich weiter. Und weiter. Bis in die Dämmerung laufe ich hinein, inspiziere unzählige Stellen, mache immer wieder kleinere Abstecher vom Weg, um potenziell flache Stellen zu untersuchen und bin doch nicht zufrieden zu stellen.
Mit Einbruch der Dunkelheit baue ich das Zelt schlussendlich auf, während ich von zwei Hirschkühen von der anderen Seite des Flusses beobachtet werde.
Leicht abfallendes Gelände, hohes stechendes Gras und überall Kuhfladen. Doch Hauptsache ausruhen. Die wunden Füße schmerzen bei jedem Schritt, auf die ersten Stunden des morgigen Tages bin ich gespannt.
Langsam geht es in der Dämmerung los. Der Weg ist bequem zu gehen und führt mich an einen großen malerischen See, an dessen Ufer ein verwunschener Kiefernwald steht. Ein beliebtes Ausflugsziel ist der Lac des Bouillouses wie mir scheint. Selbst zu der frühen Stunden treffe ich vereinzelt auf Menschen. Das Tal in welchem ich nächtigte und der See entschädigen allemal für den verpassten Gipfel des Pic Carlit. Hoffe ich zumindest.
Durch Wälder und vorbei an den einen oder anderen Skilift laufe ich nach Bolquere hinein. Der große weitläufige Casino Supermarkt kostet mich fast eine Stunde. Viel kaufe ich dennoch nicht – nur mein Erste Hilfe Kit stocke ich ordentlich auf.
Der Abstieg in das eigentliche Dorfzentrum führt mich durch von verlassenen Ferienhäusern gesäumte Straßen. Am kleinen Dorfplatz mit Brunnen hänge ich Zelt und Schlafsack zum Trocknen über die Pergola, mache erstmal Mittagspause und versorge die wund gelaufenen Füße. Ich klebe einfach die komplette Fußsohle mit einem großen Pflaster ab, was erstaunlich gut funktioniert.
Bis Eyne folgt der Weg einige Kilometer der asphaltierten Straße. Mit den geflickten Füßen reiße ich diese zügig ab. Von dort geht es das Vallée d’Eyne hinauf. Der Col de Nuria (2683m) vor mir liegt im Nebel, doch heute möchte ich noch ein wenig vorankommen und zumindest bis zu der Stelle laufen, an welcher ich abermals auf der GR11 treffe. Es ist schließlich noch früh und dort soll man gut biwakieren können.
Auf dem Sattel geht ein scheisskalter Wind und die Sicht ist auch eher dürftig. Zügig laufe ich den Grat entlang, treffe auf den anvisierten Abzweig und laufe daran vorbei. Hier ist es definitiv zu ungemütlich um die Nacht zu bleiben. Den einen oder anderen Gipfel nehme ich auf dem sanften Grat noch mit. Die Wanderung kann bei schönen Wetter bestimmt aussichtsreich sein, doch ich sehe nur wenige Meter weit.
Ich überschlage im Kopf immer wieder ob es möglich wäre, noch vor der Dunkelheit das Refuge Ulm de Terre zu erreichen . Bekäme ich dort noch etwas zu essen? Ich lauf weiter, ich werde es schon erleben.
Tatsächlich erreiche ich das Refugi noch im Hellen, schlage mein Lager aber auf dem Plateau etwas oberhalb davon auf. Essen hab ich schließlich erst am Vormittag gekauft und die Sicht von hier oben ist super. Außerdem mag ich zwei Dinge gar nicht: Missgelaunte Hüttenwirte wenn man spät am Abend erscheint und schnarchende Bettnachbarn.
So sitz ich noch lange vor dem Zelt und verspeise meinen Proviant, während meine Nachbarn vom Zelt auf der anderen Seite des Plateaus immer wieder mit ihren Stirnlampen zu kleinen Nachtwanderungen aufbrechen. Ich gebe es irgendwann auf, zu verstehen welchem Ritual sie dort nachgehen und bereue beim in Schlafsack kriechen, dass Zelt so exponiert in den doch ziemlich aufbrausenden Wind gestellt zu haben.
Der Wind hat auch am Morgen nicht abgeschwächt. Die HRP führt über grüne weite Hügel soweit das Auge reicht und somit bin ich diesem schutzlos ausgeliefert.
Immer am Grat entlang wandere ich auf französischem Boden Richtung Osten. Unten in Spanien hängen die Wolken und der starke Wind sorgt dafür, dass sie auch dort bleiben. Trotz des Sonnenscheins friere ich unwahrscheinlich. Der Grat wird rauer, felsiger und die Atmosphäre ist fantastisch.
In großen Serpentinen geht es über eine Schotterpiste herunter zur Gaststätte Mariailles.
Der Koch möchte noch eine rauchen und macht mir zum Dank für meine Geduld eine extra große Portion. Reis mit Bratwurst, Bohnen und dazu nochmals Reis. Das sitzt.
Ich kämpfe mich den Canigou hoch. Im Abstieg befinden sich viele Leute, doch hoch steigt zu dieser Uhrzeit kaum einer mehr. Im Tal segeln dutzende Geier über die Köpfe der Wanderer hinweg.
Im nahezu senkrechten Kamin kurz vor dem Gipfel komme ich an zwei Verrückten vorbei, die mit ihren Mountainbikes hinauf klettern. Das Video zu der Aktion war nicht schwer zu finden und bietet im späteren Verlauf wirklich sehenswerte Aufnahmen vom Gipfel.
Doch auch wenn man kein MTB auf dem Rücken trägt, ist der Ausblick vom Gipfel des Pic du Canigou (2784m) gigantisch. Kurz unterhalb dessen kann ich auch erstmals das Meer in der Ferne sehen. Vor 22 Tagen bin ich am Atlantik gestartet und habe mich entlang des Hauptkammes der Pyrenäen nun nahezu bis zum Mittelmeer durchgeschlagen.
Am Refugi unterhalb des Canigou sind eine Menge Leute. Eine Menge Zelte. Überall im lichten Kiefernwald steigt Rauch aus offiziellen Feuerstätten auf. Hinzu kommen nochmal mindestens ebenso viele wilde Lagerfeuer. Es ist laut. Irgendwo grölt ständig irgendwer. Laute Musik schallt durch den Wald. Zwischen den Bäumen hängt der harzige Rauch der schlechtbrennenden Feuer. Doch das Terrain auf den folgenden Kilometern ist steil und bewaldet. Das schreibt zumindest mein Reiseführer. Ich überzeuge mich kurz selbst davon und suche mir dann einen Platz etwas am Rande, denn es dämmert bereits. Ich lege mich zu Bett und hoffe nicht im Schlaf einem Waldbrand zum Opfer zu fallen.