Raisadalen – Somashytta 36km
Kinderstimmen in der Ferne sind das erste Anzeichen von Zivilisation. Der Weg führte mich am Morgen durch urwaldähnliche Auenwälder Richtung Saraelv. An dem kleinen Parkplatz vor dem Ort liegen ein paar Boote im Wasser. Bänke und Tische bieten mir die Möglichkeit eine kurze Pause einzulegen, auch wenn das Wetter nicht dazu einlädt. In der Nacht hat der Regen aufgehört und auch der Wind hat sich gelegt, doch immer wieder fängt es an zu nieseln, die Luft ist gesättigt vom Wasserdampf.
Der Ort besteht aus nur wenigen Häusern – bietet jedoch erstmals seit Tagen Mobilfunkempfang. So sende ich ein paar Nachrichten in die Heimat und hänge anschließend noch in der Warteschleife einer deutschen Hotline. Wie sich heraus stellt, hatte mein Spot Gen3 in dem tiefen Tal keinen Empfang und so gab es von mir die letzten zwei Tage keine aktuelle Standortübermittlung. Zumindest weiß ich jetzt, dass tatsächlich jemand meinen Routenverlauf online verfolgt.
Mittag ist bereits durch als, ich weiterkomme. Von der Ortschaft geht es steil bergauf aus dem Tal heraus. Kiefern, Felsen, Wasserfälle und dazwischen Blaubeeren so viel man möchte. Abermals entdecke ich meine Begeisterung für diese Landschaftsform als ich zum Sarafossen aufsteige.
Oberhalb der Baumgrenze wird es düster, tief hängen die Wolken in den Bergen und mit zunehmender Höhe fallen die Temperaturen sogleich deutlich. Stetig bergan geht es durch Moore und Flüsse an der Bergflanke entlang. Zu meinem Erstaunen sind die Berggipfel um mich herum schon weiß. Auf Schnee bin ich vorbereitet, jedoch bereits jetzt mit ihm unmittelbar konfrontiert zu sein macht mir Sorgen. Immerhin habe ich noch fast 700 Kilometer vor mir.
Gegen Abend wird das Wetter freundlicher, die Sonne kann immer wieder kurz durchbrechen und sorgt für vielfältige Lichtstimmungen. Die Sicht auf das Tal zu meiner Seite ist überwältigend. Endlich bin ich nun angekommen im Fjäll. Die Bergtundra, die weite gletschergeformte baumlose Gebirgswelt liegt vor mir. Flüsse haben tiefe Schluchten in den Felsen der weiten Täler geschnitten. In den Senken liegen Bergseen und über allem trohnen die weißen Gipfel.
Mit der langsam untergehenden Sonne im Rücken geht es Richtung Somashytta. Ohne die wärmenden Sonnenstrahlen legt sich sogleich ein eisiger Schatten über alles. Die Bergflanken am Pass sind graumeliert, wo vorhin noch der Himmel rot leuchtete türmen sich nun schwarze Wolken. Eilig laufe ich durch das karge steinige Hochtal weiter. Den Wind im Nacken hat die Wolkenfront die Jagd auf mich eröffnet.
An einem Bergsee sehe ich ein einsames Zelt im Wind flattern. Acht Kilometer sind es von hier aus noch zu der Somashytta und die Dämmerung schreitet voran. Eigentlich wäre es Zeit einen Schlafplatz zu suchen, noch ohne Zeitdruck einen geschützten Ort auszumachen, das letzte Licht zu nutzen und das Zelt aufzubauen. Ich laufe weiter.
Noch immer den Wind im Rücken durchquere ich ein Tal nach dem anderen. Auf jeder Anhöhe fällt mein Blick in die nächste Ebene. In der Dämmerung lassen sich die Steinmännchen, welche meinen Weg markieren, kaum noch ausmachen. Zusehend verschwimmt alles zu einer grauen Masse. Der letzte Fluss wird nur noch trotzig durchwatet, denn gesehen hatte ich sie schon die Hütte. In meiner Vorstellung brennt bereits der Ofen, ich kann Körper und Geist wärmen, einen Tee trinken. Doch in der hügeligen Bergwelt habe ich sie aus den Augen verloren. Nirgends kann ich sie entdecken. Fast bin ich überzeugt sie mir nur eingebildet zu haben da taucht sie wieder zwischen zwei Anhöhen auf und verschwindet sogleich wieder.
„Längst müsste ich da sein!“ geht mir immer wieder durch den Kopf. Vermutlich bin ich in der Dunkelheit schon dran vorbei gelaufen. Als ich gerade das Smartphone auspacken möchte um per GPS meine Position zu überprüfen, liegt sie vor mir. Es brennt kein Licht und auch kein Ofen. Kein Rauch steigt aus dem Schornstein auf.
Die Hütte ist im Besitz des Statskog, dem Unternehmen welches die staatlichen Ländereien und Wälder verwaltet. Viele dieser Hütten sind unverschlossen und werden kostenlos für Wanderer zur Verfügung gestellt. Neben dem zentralen Aufenthaltsraum mit Galerie zum Schlafen gibt es noch ein separates Schlafzimmer mit zwei Stockbetten. Wie hier oben üblich, liegt einige Meter entfernt das Nebengebäude mit Brennholzvorräten und Plumpsklo.
Ich heize in der urgemütlichen Stube ein, bette mich direkt auf der breiten Sitzbank neben dem Ofen und studiere das Hüttenbuch. Als ich die Kerzen ausblase und mich schlafen lege ist es bereits nach Mitternacht.
Somashytta – Meekonjärvi 23km
Es ist erst vier Uhr morgens, ich stehe vor der Hütte und hacke Holz. Über dem See geht bereits die Sonne auf als ich frisches Wasser hole.
Erneut heize ich den Ofen ein und erwärme einen Kessel. Sich erstmals mit warmen Wasser zu waschen ist eine Wohltat.
Gegen sieben Uhr verlasse ich Norwegen. Markiert wird die Grenze zu Finnland durch einen einfachen gelb angestrichenen Steinhaufen. Obwohl ich seit fast zwei Tagen keinen Kontakt mehr mit Menschen hatte, ist für die erste Begegnung an diesem Morgen ein freundliches aber kurzes „Hej“ genug der Kommunikation. Für beide Parteien.
An der Hochebene unterhalb des schneebedeckten Halti ist erstmals Zeit für eine Rast. Ich nehme die Mütze ab und setze mich auf einen Felsbrocken. Leise gurgelt das Wasser unter dem Geröll, ansonsten herrscht Stille. Neben der Abwesenheit jeglicher Geräusche der Zivilisation ist auch sonst nichts zu hören. Die Sonne blinzelt zwischen den Wolken hervor, die Wasserflächen zwischen den Felsen sind mit einer dünnen Eisschicht überzogen.
Mit zunehmender Höhe wird es um mich herum immer weißer. Der Schnee ist stark verweht und hart gefroren, als erster hinterlasse ich an diesem Morgen meine Fußspuren in der unberührten Landschaft.
Auf dem Bergrücken angekommen fällt der Blick auf ein Samidorf neben einem großen See. Um die am Pihtsusjärvi liegende Hütte steht eine Vielzahl an Zelten und auf der Terrasse des Halti-Basecamps zähle ich 21 Rucksäcke. Ich sehe zu, dass ich weiterkomme und mache in sicherer Entfernung auf einem Felsen am See Mittagspause.
Ich folge einem immer breiter werdenden Fluss durch das Tal. Immer wieder kommen mir Wanderer entgegen die von Kilpisjärvi aus zum Halti aufsteigen. Das Wetter wird zunehmen besser, die Sonne scheint und es ist fast sommerlich warm. Die Luft ist angenehm frisch doch die Sonne heizt ordentlich ein und treibt mir die Kälte aus den Gliedern. Erstmals trage ich nur mein Longsleeve, schiebe die Beine der Hose hoch. Der klare blaue Himmel sollte mich eigentlich misstrauisch stimmen doch nun genieß ich das Wetter erstmal in vollen Zügen. Nach der feuchten und kalten Witterung der letzten Tage ist das eine willkommene Abwechslung.
Der geröllige Weg am Seeufer jedoch, gab mir den Rest und spürbar werden meine Schritte immer unsicherer. Der Plan war heute so viel wie möglich Kilometer zu gehen um morgen in der Früh Kilpisjärvi zu erreichen. Nach einem Anlaufschmerz in den Morgenstunden gewöhnt sich der Fuß im Laufe des Tages schnell an die Belastung und nimmt sie stillschweigend hin. Doch mein Knie macht mir zunehmend Probleme. Aus leidlicher Erfahrung weiß ich, dass diese Schmerzen nicht weggehen werden. Das Tal mit dem breiten Flussbett ist traumhaft schön und das Wetter hervorragend, doch inzwischen habe ich dafür kaum noch ein Auge.
Immer wieder muss ich Pause machen – ein Weiterkommen fast unmöglich. Mit steifen Knie stolpere ich voran. Am Ufer des Meekonjärvi baue ich schlussendlich mein Zelt auf.
Florence kommt des Weges, sie wird für die Nacht die finnische Hütte am anderen Seeufer aufsuchen. In Finnland gibt es neben einem verschlossenen Bereich den man reservieren muss auch immer einen öffentlich zugänglichen und kostenlosen Raum. Aufgrund der Länge ihrer Wanderung muss sie deutlich besser auf ihre Finanzen achtgeben als ich, umso willkommener sind ihr kostenlose Schlafplätze wie diese.
Den Plan ein Lagerfeuer zu entfachen verwerfe ich bald und flüchte vor den Moskitos in das Zeltinnere. Es ist erst halb sechs, ich koche mir etwas zu essen und gehe früh ins Bett.
Meekonjärvi – Kilpisjärvi 36km
Die Kälte lässt mich an diesem Morgen nicht lange schlafen. Eine feine Eisschicht überzieht das Zelt. Der Himmel ist blau und der Raureif funkelt in den ersten Sonnenstrahlen als ich um sechs Uhr aufbreche.
Schon nach wenigen hundert Metern setzt der Schmerz in meinem Knie wieder ein und ich bandagiere es provisorisch mit einer Mullbinde. Sieht bescheiden aus, aber funktioniert erstaunlich gut. Auch das andere Knie stimmt ein Klagelied an. Der Fuß sowieso.
Nach einem langen Anstieg führt der Pfad über eine weite Hochebene. Bäche plätschern, der Wind geht leicht und Rentiere weiden entlang des Weges. Auch heute zeigt sich das Wetter von seiner guten Seite.
Immer wieder treffe ich auf Menschen. Kurz vor der finnischen Saarijärvihütte überhole ich einen alten Finnen der bedächtig von Stein zu Stein schreitet. Bei einem Tee unterhalten wir uns kurz in der Hütte. In seiner Jugend war er bereits viermal auf dem 1324m hohen Haltitunturi (Halti). Jetzt wollte er nochmal hinauf, ist aber aufgrund der schlechten Wetterprognose umgekehrt. Nichts Besonderes sei der Ort dort oben sagt er, der höchste Punkt liege nicht mal in Finnland. Auch wenn der Halti kein wirkliches Gipfelerlebnis bietet, in Kombination mit den 50 Kilometern, welche man bis dorthin durch diese Bergwelt zurücklegen darf, ist es trotzdem eine interessante Unternehmung. – Allemal interessanter als Deutschlands höchsten Berg die Zugspitze zu besteigen. Sind es dort ja gerade einmal 50 Meter von der Seilbahn bis zum Gipfelkreuz.
Der Abstieg nach Kilpisjärvi sei nicht gut zu gehen, gibt er mir noch mit auf den Weg, lang und steinig ist er. Recht soll er behalten, schon bald bandagiere ich mir auch das andere Knie und wickle zur weiteren Aussteifung mein Handtuch herum.
Nachdem ich mehrere Seen passiert und den Abstieg bewältigt habe, durchwandere ich im Tal einen traumhaften, mit kleinen Teichen durchsiebten, felsigen Birkenwald. Die letzten Kilometer zum Campingplatz verlangen mir nochmals alles ab. Es geht abermals einen Hügel hinauf und dann durch einen Wald zwischen hunderten Rentieren hindurch zu meinem ersten großen Etappenziel dem finnischen Ort Kilpisjärvi.
Der Campingplatz ist trist. Kleine Hütten, Gartenhäusern gleich, und unzählige Wohnmobile bestimmen das Bild. In einem größeren Gebäude an der Straße ist neben einem Souvenirshop auch die Rezeption und das Restaurant. Ich beziehe für zwei Nächte auf dem Zeltplatz Quartier. Der Aufforderung am Buffet noch zuzuschlagen, bevor es abgeräumt wird, gehe ich ausgiebig nach. Anschließend suche ich die Duschen im Nebengebäude auf. Die Sanitäranlagen sind ein wenig in die Jahre gekommen, aber das spielt für mich heute keine Rolle mehr. Eine ganze Weile lass ich das heiße Wasser über mich laufen. Ich und meine Füße sehen wüst aus. Das Gesicht ist rot, der Bart zerzaust, Fuß- und Fingernägel schwarz. Außerdem glüht mein Kopf und ich habe unglaublichen Durst.