Maximilian Lange // Journal

Fels, Wasser, Erde & Luft

Pyrenäentraverse 1 – Durch’s grüne Baskenland

Ich stehe an der Küstenpromenade im französischen Hendaye und betrachte eine Informationstafel. Abgebildet ist der Verlauf des GR 10 (Grande Randonnée) der von hier, durch die französischen Pyrenäen, vom Atlantik zum Mittelmeer führt. Der Haute randonnée pyrénéenne, der Weitwanderweg welchem ich folgen möchte, hat keinen solchen Schaukasten, kein Schild, Markierung oder jedweden Hinweis. In der Hand halte ich einen Zettel vollgestopft mit Anweisungen. Lediglich drei dieser DIN A4 Seiten habe ich im Gepäck, beidseitig bedruckt sollen sie mir den Weg bis ins  800  Kilometer entfernte Banyuls-sur-Mer weisen. Immer dem Hauptkamm der Pyrenäen folgend geht es durch Spanien, Frankreich und Andorra Richtung Mittelmeer. Ich bin gespannt.

Doch zuerst führt mich mein Weg in die nächste Boulangerie, zum Frühstück gibt es einen heißen Kaffee und ein frisches Chocolatine. Mein Zug kam erst am späten Vorabend in Hendaye an, Hotels entsprechen vor Ort preislich ganz und gar nicht meiner Vorstellung und die Campingplätze sind Mitte August ausgebucht. So verbrachte ich die Nacht am Ortsrand oberhalb der Klippen.

Als die letzten Häuser des Ortes hinter mir liegen habe ich schon deutlich an Höhe gewonnen und kann auf das Küstenstädtchen hinab blicken.

Es soll nicht lange dauern da passiert, was die nächsten Tage noch öfters geschehen wird und schon bald dazu führt, dass ich reflexartig in regelmäßigen Abständen den Inhalt meiner Hosentasche kontrolliere: Ich habe den zweifach auf handliches Format gefalteten Zettel mit der Wegbeschreibung für die ersten Tage verloren. Hier im dicht besiedelten Gebiet muss ich oft nachsehen, welcher der zahlreichen Wege nun der richtige ist, somit muss ich zumindest nicht weit zurück laufen um ihn wieder aufzulesen. Der Hund, dessen Grundstück ich in diesem Zuge dreimal passiere, begrüßt mich jedes Mal unermüdlich und lautstark.

Die fast baumlosen grünen Hügel des Baskenlands werden schon bald zur ersten Herausforderung. Die Mittagssonne zeigt was mir die nächsten Stunden bevorsteht. Spürbar drückt der Schweiß aus den Poren heraus als ich die ersten Steigungen erklimme. Ein graumeliertes T-Shirt zu tragen erweist sich als Fehler, nicht nur mein hochroter Kopf auch die deutlich erkennbaren dunklen Flecken auf dem Shirt machen deutlich, dass ich nicht in bester Form bin.

Meine Aufmerksamkeit erweckt ein Schatten, der kurz die Sonne verdunkelt. Am Himmel kreisen die ersten Geier über mir. Was mich zunächst fasziniert und etliche unscharfe Fotos anfertigen lässt, wird schon bald zum gewohnten Bild. Vor allem im Baskenland gehören die Bartgeier  zur oft gesehen Erscheinung am Himmel.

Schon jetzt nach den ersten paar Stunden entscheide ich mich für eine Abweichung von der Route. Ich steige Richtung Bera ab und lasse den Ausflugsberg Larrune mit Zahnradbahn und Restaurant  links liegen. Ein kühles Getränk und ein Snack aus dem hiesigen Supermarkt ziehe ich einer Touristenschar klar vor.

Nach der kurzen Mittagspause spricht mich am Ortsrand ein am Wege verweilender Wanderer an. Reimar ist auf dem spanischen Pendant zum französischen GR10 unterwegs (dem GR11 welchen ich hier kreuze) und kommt gerade aus dem Freibad. Bei dem Wetter keine so dumme Idee denke ich mir. Die nächsten Stunden gehen wir gemeinsam und tauschen uns aus. Wobei Reimar deutlich mehr zu erzählen hat als ich: Bereits auf den amerikanischen Fernwanderwegen PCT und AT war er unterwegs, wanderte in der Mongolei und auf Island.

Das Terrain bleibt derweil einfach zu gehen, immer wieder geht es auf breiteren Wirtschaftswegen durch das hügelige Baskenland.

Einzig die Deckung des nicht unerheblichen Wasserbedarfs stellt eine Herausforderung dar, viele Bäche sind trocken und die meisten Ressourcen aufgrund der intensiven Viehhaltung nicht zu gebrauchen.

Das Lager schlagen wir bei beginnender Dämmerung auf der Kuppe eines der Hügel auf. Obwohl mein Rucksack kaum mehr als viereinhalb Kilogramm auf die Waage bringt, ist Reimar nochmals sehr viel minimalistischer unterwegs als ich und plant zudem die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Bin ich eigentlich Fan meiner eigenen vier Wände, ringe ich mich dennoch ebenfalls zu einem Cowboy Camping durch.

Nach dem Sonnenuntergang  hält plötzlich Leben Einzug auf unserem Logenplatz über den Tälern. Eine Vielzahl an der für diese Gegend typischen Pottoks, kleine nahezu wilde Ponys, umringen unser Nachtlager. Gott sei Dank werden die Tiere kaum größer als einen guten Meter, Schlaf zu finden zwischen ausgewachsener Pferde hätte mir wohl Probleme bereitet.

Vorbei an einigen Bunkeranlagen und Geschützstellungen geht es am nächsten Morgen nach Elizondo.

Die Temperaturen steigen bereits wieder ordentlich in die Höhe, so schließe ich mich Reimars heutigem Besuch im Schwimmbad an. Der Eintritt ist kostspielig und leider gibt es weder Pommes noch Eis – doch die Erfrischung im Wasser tut gut und ich döse anschließend in der Sonne vor mich hin, während die Powerbank an der Kasse lädt.

Das Stadtleben in Elizondo konzentriert sich am Sonntag auf die zwei Bars am Stadtplatz. Hier nehmen wir eine Kleinigkeit zu uns und sind anschließend dumm genug, um uns in der glutheißen Mittagssonne an den Weiterweg zu machen. Stetig ansteigend geht es durch die hügelige Landschaft aufwärts. Unzählige Pausen legen wir im Schatten ein, um etwas abzukühlen und zu trinken. Nachdem wir uns in der prallen Sonne auf der Schotterstraße zur Cabane hinauf gekämpft haben, trübt es sich zusehends ein. Noch während  der Rast vor der Hütte zieht Regen auf.

Die älteren Herrschaften, welche hier oben der Hitze entflohen und im Schatten auf Tischen und Stühlen dösten, verlassen fluchtartig das Anwesen und schließen die Tür ab.  Uns wird klar, dass wir einem Irrtum unterlagen. Anstatt wie erhofft in der Hütte abzuwettern, müssen wir zwangsläufig realisieren, dass dies eine private Jagdhütte ist. Die große Fichte an der Terrasse jedoch, spendet uns ausreichend Schutz und der Regen hält nicht lange an. Reimar zieht es weiter. Ich habe es bis zum nächsten Ort nichtmehr weit und muss dort am nächsten Morgen einkaufen. So trennen sich unsere Wege bald nach der Hütte.

Noch eine Stunde steige ich quer Feld ein über eine steile Weide ab  und schlage oberhalb des Ortes mein Lager auf. Das Gewitter der Nacht zieht in der Ferne vorbei.

Les Aldudes ist ein beschaulicher Ort mit nur wenigen Geschäften. So beschaulich, dass die Tankstelle, in welcher sich auch das Lebensmittelgeschäft befindet, am Montagmorgen geschlossen hat. Auf einem der Plastikstühle neben den Zapfsäulen gehe ich meine Optionen durch. Die nächsten Einkaufsmöglichkeiten liegen fernab des Weges und so warte ich zumindest bis die Bar öffnet und nehme dort ein kleines aber sehr gutes Frühstück zu mir. Hier erfahre ich auch, dass am Ortsende ein kleiner Laden örtlicher Produzenten ein paar wenige lokale Produkte verkauft und später die Bäckerin mit ihrem Lieferwagen kurz vor der Bar anhält. Bewaffnet mit einem Baguette, etwas Wurst und der teuersten Packung Kartoffelchips die ich jemals gegessen habe mache ich mich so an den Weiterweg.

Das Wetter hat sich seit dem gestrigen Regenfall nichtmehr erholt. Nach der Hitze der letzten Tage empfinde ich den Wetterumschwung etwas rabiat. Grau ist es, die Wolken hängen tief in den Tälern und in regelmäßigen Abständen fängt es an zu regnen.

Durch die feuchte, dunkelgrüne und mit Farnen bewachsene Landschaft geht es vorwärts. Bis auf ein paar Geier und den allgegenwärtigen Kuhherden bin ich fast alleine hier draußen. Ein Stück weit begleitet mich ein Franzose aus Paris. Als wir uns treffen, sucht er bereits seit einer Stunde den Weg. Nur ausgestattet mit Karte und Kompass hat er bereits zum zweiten Mal an diesem Tage die Orientierung verloren. Die häufig genutzten baskischen Namen für Flüsse, Berge und Täler, welche nicht mit denen der Karte übereinstimmen, machen eine Navigation auch nicht unbedingt leichter. Wir stapfen auf breiten Forststraßen durch den Wald, während dessen es unerlässlich regnet. Irgendwann wird das Klackern seiner Trekkingstöcke, welche er energisch in den Asphalt rammt, leiser und verliert sich dann.

Die Kirche des Ibañeta-Passes, oberhalb von Roncesvalles, nutze ich um im Trockenen eine Pause einzulegen. Hier läuft der Camino Francés von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Spanien ein und ich laufe den Pelegrinos auf ihrer ersten Etappe entgegen.

An einer Passstraße wird es abermals Zeit von der eigentlichen Route abzuweichen. Anstatt der Straße zu folgen, nehme ich einen parallel dazu verlaufenden Weg durch den Wald. Das durchwachsene Wetter der letzten Wochen hat seine Spuren hinterlassen und bin froh den schlammigen, aufgeweichten Waldboden bald wieder gegen eine Schotterstraße eintauschen zu können. Gesäumt von unzähligen Pferden führt mich diese durch ein Tal, bis ich aufsteige um auf einem wolkenverhangenen, nasskalten und windigen Sattel mein Nachtlager zu errichten.

Der nächste Morgen ist bitterkalt und die Luft triefnass. Ich sehe zu, dass ich schnell in das Tal hinab komme und gehe zum Refuge Ergurguy.

Nach der kurzen Rast auf der sehr spartanischen Hütte mache mich daran, wieder zurück auf die eigentliche Route zu kommen. Von hier weiter dem GR12 zu folgen erschiene mir zwar sehr verlockend, führt die HRP doch wieder hinab ins Tal zu einem Ort. Doch genau dort muss ich hin, denn ich habe Hunger!

Im etwas baufälligen und unbewirtschafteten Refuge am Straßenrand kurz vor dem Ort Iraty nehme ich eine Dusche, bevor ich wieder unter Menschen komme.  Meine Wahl fällt auf das Le Kayolar, dass das günstigere der zwei zur Auswahl stehenden Restaurants ist. Der Speiseraum ist ebenso schlicht wie gut gefüllt. Zur Wahl des Essens übersetzt mir die Inhaberin die Speisekarte mittels Tierlauten. Vom umfangreichen Essen gesättigt und von zwei Gläsern Rotwein ermattet, kostet es etwas Überwindung mich wieder aufzuraffen und in das nasskalte Wetter zurück zu kehren.

Wenige Kilometer später lege ich noch einen Abstecher ein. Der kleine Lebensmittelladen, in dem Feriendorf welches ich anlaufe, hat entgegen seiner Öffnungszeiten aber geschlossen. Wie sollte es auch anders sein.

Unter mir liegen die weiten grünen Täler und um mich herum ragen die Gipfel in den Himmel. Doch davon bekomme ich nichts mit. Mit zunehmender Höhe versinke ich wieder in dem Hochnebel und stapfe ohne jegliche Sicht vor mich hin. Eigentlich stände für den heutigen Tag der erste richtige Gipfel auf dem Plan: Direkt über den 2017m hohen Pic d’Orhy verläuft die Haute Route. Doch die Gegend ist für sein Wetter bekannt und mein Guide hat wie so oft eine Alternativroute parat.

Im Tal treffe ich wieder auf den GR12, welcher mir schon am Vormittag den Weg leitete. Doch nachdem die Bergflanke gequert ist, wendet sich auch dieser Pfad nach oben. Mit steigender Höhe nimmt der Wind zu, so dass meine Regenjacke flattert und die Gangart zunehmend gebückter wird. Immer wieder bringt mich eine Böe zum Taumeln, während die Sicht nur noch bei wenigen Metern liegt und es auch bereits dämmert. Der Wind ist mittlerweile ein ausgewachsener Sturm und am Pass angekommen schlägt mir dieser mit aller Macht entgegen. An ein weitergehen über den Bergrücken ist nicht zu denken, geschweige denn irgendwo hier in der Umgebung ein Zelt aufzuschlagen. Die Alternative Richtung nächstgelegener Schutzhütte ist aber kaum besser: Mit einer Hand an der Leitplanke und gebückten Schrittes versuche ich über die Straße abzusteigen. Der Wind zerrt dermaßen an meiner Kleidung, dass ich mich nicht wundern täte, wenn dieser sie in Stücke reißen würde. Gott sei Dank hat gleich der erste Autofahrer Mitleid, gerade mal wenige Meter zurückgelegt sammelt er mich ein und bringt mich aus der Gefahrenzone.

Ein paar Kehren später bin ich wieder auf mich selbst gestellt: Noch drei Kilometer über die Schotterpiste bis zur Cabane Ardane sind es laut seiner Aussage. Aus den drei Kilometern werden zwei Stunden und als ich mich der Hütte nähere ist es bereits stockfinster. Das Licht, welchem ich entgegen gehe, gehört zur Schäferhütte. Hier ganz in der Nähe soll die Cabane liegen. Doch selbst mithilfe des jungen Schäfers, der in Gummistiefeln zickzack durch den Nebel stapft und immer wieder auf dem Smartphone die Position überprüft, dauert es eine ganze Weile bis die Hütte im Schein der Taschenlampe zwischen den Nebelschwaden auftaucht. Ich bin nicht der einzige Gast diesen Abend, so lege ich mich leise in die obere Etage der Pritsche. Zwischen den unzähligen Matratzen die hier gestapelt sind finde ich nur schwer Schlaf und hoffe inständig nicht an den Schimmelsporen zu ersticken.

Vor der Hütte stehe ich oberhalb des plätschernden Baches und putze mir etwas irritiert die Zähne. Als wäre nichts gewesen, zeigt sich der beginnende Tag von seiner besten Seite. Keine 100 Meter entfernt liegt die Schäferhütte. Ohne Hilfe hätte ich bei den Sichtverhältnissen des Vortags mein Nachtlager wohl nie gefunden.

Nachdem ich nun zwei Tage lang durch eine grau verhangene Szenerie gewandert bin, zeigt mir die ungewohnt klare Sicht ein verändertes Landschaftsbild.

Die grünen Hügel haben sich weitestgehend verabschiedet und die Berge haben inzwischen ein Anrecht auch so genannt zu werden. Gegen Mittag tauche ich in eine Karstlandschaft ein, wie ich sie auch im Berchtesgadener Land vorfinden könnte. Durch das Geröll flitzen Murmeltiere und auch die ersten Gämse scheuche ich auf.

Ein langer Abstieg, durch die sofort ins Herz geschlossene Landschaft, bringt mich zum Plateau de Sanchèse samt dazugehörigen Wasserfall. Zahlreiche Ausflügler genießen den traumhaften Tag am Wasser. Doch ich würdige dem Tal nur wenige Blicke und schreite zügigen Schrittes über die Zugangsstraße voran. Es wird bereits Abend und ich möchte den Ort Lescun noch vor Ladenschluss erreichen.

Bald darauf stehe ich vor dem Laden und rüttel an der Tür. Vergeblich. Wie mir die freundliche Dame in der benachbarten Bar erklärt, ist heute Feiertag und die Läden haben in Frankreich nur bis zum Mittag geöffnet. Drei geschlossene Läden in drei Tagen, ich hab wohl einen Lauf. Doch ich könnt es schlechter treffen: Im beschaulichen Bergdorf mit kleinen Häusern aus unverputzten Kalksteinmauerwerk bekomme ich zumindest noch ein Abendessen und einige gemütliche Stunden in der Bar am Dorfplatz. Der örtliche städtische Campingplatz wird saniert und derweil können Weitwanderer der verschiedenen Grand Randonnees diesen kostenfrei nutzen. Ich sehe mich auch als einen eben solchen und schlage mein Zelt für die Nacht auf.

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